Leidet Jenny an Blasenschwäche?
Es ist Oktober. Der Tag verlief bisher unspektakulär. Im Tagebuch auf einem Polizeirevier würde man den Eintrag finden: „Keine besonderen Vorkommnisse.“ Ich bin mit meinem VW Tiguan in Nordhessen unterwegs und denke über das Leben auf dem Land im Allgemeinen und über die Liebe zum Land im Besonderen nach.
Das Klingeln des Telefons reißt mich aus meinen Gedanken. Jenny meldet sich. Ach, die Jenny … Sie erzählt kurz, was sie heute erlebt hat. Sie ging mit ihrem Hund spazieren. Bei ihrer heutigen Route kam sie an einem Kürbisfeld vorbei. Jenny wäre nicht Jenny, wenn sie an einem Kürbisfeld vorbeigehen könnte, ohne diesem eine besondere Beachtung zu schenken. Die Gedanken in ihrem Kopf arbeiten. „Wie werden Kürbisse eigentlich geerntet?“, fragt sie sich. Wieder zu Hause angekommen, ruft sie mich an und stellt mir genau diese Frage.
Jenny hat interessante Fragen. „So spontan weiß ich da auch keine Antwort.“, sage ich wahrheitsgemäß. Und direkt im Anschluss sage ich ihr zu, mich darum zu kümmern. Bis eben war der Tag unspektakulär. Jetzt wird er interessant. Die Frau hält mich auf Trab.
Kürbisse. Jenny beschäftigt sich mit Kürbissen. Was mag dahinterstecken? Hat sie ein Rezept für eine Kürbissuppe entdeckt, und möchte es sie es ausprobieren? Huldigt sie keltischen Bräuchen? Leidet sie an Blasenschwäche und sucht Linderung für ihr Leiden? Mit diesen Fragen mache ich mich auf den Weg zu einem Kürbisfeld.
Mein Weg führt mich nach Rheinland-Pflalz. An der Straße von Alzey nach Kirchheimbolanden ist sehr versteckt ein Stein, der die Grenze zwischen Rheinhessen und der Pfalz markiert. Im Gegensatz dazu ist der Hof Neber in unmittelbarer Nähe dieses Grenzsteins dank seiner aus mehreren Rundballen und einem Erntewagen bestehenden „Dekoration“ schon von Weitem sichtbar. Hier werden bereits seit vielen Jahren Kürbisse angebaut und verkauft. Der Hof Neber ist dafür bekannt.
Dort angekommen greife ich nach allem, was ich brauche, um Jennys Frage nach der Kürbisernte beantworten zu können: Stift, Block, Foto, Videokamera, Stativ, Akku, Bänder. Das Stativ mit Kamera geschultert betrete ich den Hof. Die Auswahl an Kürbissen ist gigantisch. Ich weiß fast nicht, wo ich anfangen soll zu fotografieren. Noch während ich die ersten Impressionen festhalte, kommt ein Mann auf mich zu. Ich kenne ihn nicht. Er scheint mich zu kennen. Er begrüßt mich mit den Worten: „Ich habe mir gerade Deinen Film angeschaut. Dann blicke ich aus dem Fenster und denke: ‚Ei, da ist er ja.’ Ich bin Andreas.“ Er hatte sich meinen Film „Jenny weiß, wie der Landwirt schafft“ angeschaut, als ich den Hof betreten habe.
Andreas Kissinger führt den Hof Neber. Dort werden u. a. Kürbisse angebaut. Über 100 Sorten Zier- und Speisekürbisse sind im Angebot. Der Verkauf erfolgt ab Hof. Daneben gibt es einige Felder mit Kürbissen für die Saatgutvermehrung.
Wie erfolgt die Ernte? Die auf dem Feld verstreut liegenden Kürbisse werden zunächst mit einem selbstgebauten Kürbisschiebepflug für den Frontlader zu Reihen zusammengeschoben. Dann kommt die Kürbisdreschmaschine zum Einsatz. Sie nimmt die Kürbisse auf, zerkleinert sie und separiert die Kerne. Diese werden auf dem Hof gesäubert, getrocknet, abgepackt und nach Ungarn geschickt. Dort werden sie im nächsten Frühjahr ausgesät. Die von diesen Kürbissen geernteten Samen kommen wieder nach Deutschland und werden von der Pharmaindustrie verarbeitet. Unter anderem für Mittel gegen Blasenschwäche. Mit den Informationen, die Andreas Kissinger mir gegeben hat, kann ich die Frage von Jenny „Wie werden Kürbisse eigentlich geerntet?“ beantworten.
Nach dem Anruf von Jenny neigt sich der Tag unspektakulär dem Ende zu. Versinkend in Gedanken über das Leben auf dem Land im Allgemeinen und über die Liebe zum Land im Besonderen fahre ich in die Nacht.