Holmer ante portas
Es ist November; laut Kalender. Der November 2008 ist ein gefühlter April. Eisiger Wind, Nebel, strahlender Sonnenschein und Regen wechseln sich in kurzen Intervallen ab. Auch auf der politischen Bühne in Hessen wird in diesem Herbst einiges geboten. Frau Ypsilanti ist bei der Wahl angetreten, Roland Koch abzulösen.
Sie hat vor der Wahl versichert, dass eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei nicht infrage kommt. Es hat für die SPD nicht gereicht, die CDU von der Regierung abzulösen. Auf der Suche nach möglichen Koalitionspartnern gewinnt die Linkspartei bei der SPD an Attraktivität. Irgendwann ist klar: Frau Ypsilanti will die erste Ministerpräsidentin Hessens werden. Der Wahltermin ist anberaumt. Kurz vor der Wahl legen vier SPD-Abgeordnete in einer Pressekonferenz ihre Argumente dar, warum sie einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei aus Gewissensgründen nicht zustimmen können. Die Wellen in den Parteien, den Medien und der Bevölkerung schlagen hoch. Die Titulierungen für Carmen Everts, Silke Tesch, Dagmar Metzger und Jürgen Walter reichen von „Aufrechte“ über „Abweichler“ bis zu „Verräter“. Die vier Abgeordneten erhalten Personenschutz.
Das Klingeln des Telefons reißt mich aus meinen Reflektionen. Jenny ruft an. Ich freue mich, ihre Stimme zu hören.
Jenny war mit ihrem Hund unterwegs. Sie kam an einem Feld vorbei, an dem Zuckerrüben geerntet wurden. Sie hat sich auf eine Bank gesetzt und die Maschine beobachtet. Sie konnte nicht nah genug herangehen, um alle Details erkennen zu können. „Das ist ja auch gefährlich“, sagt sie zutreffend. Ja Jenny, pass gut auf Dich auf.
Kein Anruf von Jenny ohne Auftrag. Sie bittet mich herauszufinden, wie Zuckerrüben geerntet werden und wie das alles aus der Nähe aussieht. Jenny hat einen Blick für Details. Ich sage ihr meine Unterstützung zu. Die Frau hält mich auf Trab. Auf der Straße nach Süden verblassen die Gedanken über die Landespolitik und die Überlegungen rund um die Zuckerrübenernte nehmen von Kilometer zu Kilometer mehr Raum ein.
In Wiesbaden-Erbenheim, auf einem Feld von Rolf Merten, sehe ich ihn: groß, rot, beeindruckend. Der Holmer Terra DOS im Einsatz. Es ist schön anzuschauen, wie er über das Feld schnurrt, die Rüben köpft, rodet, säubert, bunkert und schließlich seinen Bunker am Feldrand entleert.
Neben dem Holmer gibt es noch etwas, das in Wiesbaden-Erbenheim beeindruckend ist. Es sind Störche, Störche und noch mal Störche. Sie laufen neben dem Holmer her und fangen die Mäuse, die von ihm aufgescheucht werden. Die Mäuse sind für die Störche eine leichte Beute. Dabei fällt mir auf, dass die Störche vor dem Holmer oder vor einem Traktor mit Grubber oder Pflug keine Angst haben. Sie laufen direkt neben oder hinter diesen Maschinen her. Doch wenn ich mich den Störchen auf 100 Meter nähere, fliegen sie weg. Sie haben Angst vor Menschen – vor Maschinen nicht. Diese Beobachtung bestätigt sich, als ich zuschaue, was passiert, wenn der Holmer stehenbleibt. Die Störche suchen weiter nach den heimatlos gewordenen Mäusen. Doch sobald sich die Tür der Kabine öffnet, erkennen sie die Gefahr Mensch und fliegen auf das Nachbarfeld.
Bei diesen Beobachtungen vergehen Stunden um Stunden. Es wird schnell dunkel im November. Mit der Dunkelheit kommt die Kälte. Ich gebe dem Holmerfahrer ein Zeichen. Er lässt die Leiter herunter. Ich steige sie hinauf. In der Kabine kann ich mich wieder aufwärmen. Noch einige Runden, dann ist Feierabend.
Ich beschließe den Tag nicht, ohne mich noch mal bei Jenny zu melden, um ihr per Film zu erklären, wie der Landwirt bei der Zuckerrübenernte schafft. Sie bedankt sich und versichert mir, sie sei wieder einmal schlauer geworden.
Auf dem Nachhauseweg nimmt ein dritter Gedanke an diesem Tag Gestalt an. Ich denke noch mal über Jenny nach. Ich würde sie gerne einmal kennenlernen. Doch ich weiß nicht, was sie davon hält. Kurz darauf rufe ich mich selbst zur Ordnung. Ist das ein Thema für November? Oder haben diese Gedanken etwas mit dem gefühlten April zu tun?